Von Hamed Abdel-Samad
Junge Menschen in Ägypten, in Tunesien, im Iran und in Marokko kämpfen gegen die weltliche Macht des Islam. Sie lehnen den Zwang der Religion ab, die Vorschriften der alten Männer und den Tugendterror.
Bild links: Hamed Abdel-Samad.
Der arabische Frühling hat einen Kampf der Kulturen entfesselt. In Ländern wie Ägypten, Iran, Marokko und Tunesien streiten säkulare und religiöse Kräfte seit zwei Jahren darüber, wie viel Einfluss Religion auf den Staat, auf die Gesetzgebung nehmen darf. Immer häufiger zeigen sich inzwischen arabische Atheisten öffentlich und mischen sich in die politische Debatte ein.
Der Ägypter Hamed Abdel-Samad traf Menschen, die in dieser schwierigen Lage und trotz Lebensgefahr ihre Stimme erheben. Unser Autor weiß, was das bedeutet: Er geriet selbst zwischen die Fronten und wird mit dem Tode bedroht.
“Wir haben die Gläubigen in ihrem Zuhause geschlagen“
Sein Name bedeutet eigentlich das Gegenteil seiner Gesinnung. Momen, das heißt auf Arabisch „gläubig“. Doch Momen ist seit vier Jahren Atheist. Er ist 21 Jahre alt und studiert Ingenieurswissenschaft an der religiösen Universität al-Azhar in Kairo, die als Zentrum des sunnitischen Islam gilt. Zwei Jahre behielt seinen Abfall vom islamischen Glauben für sich. Erst nachdem die Massenbewegung Präsident Mubarak zum Sturz gebracht hatte, nahm er seinen Mut zusammen und teilte seiner Familie und seinen engen Freunden mit, dass er nicht mehr an Gott glaubte. Viele in seiner Umgebung waren schockiert; doch er stellte fest, dass er nicht der Einzige war. Viele Freunde hatten eine ähnliche Einstellung. Doch sie trauten sich nicht, sich zu outen.
Momen gründete mit ein paar Freunden eine Facebook-Seite, sie nannten sie „Vereinigung ägyptischer Atheisten“. Binnen Monaten hatte die Seite mehrere Tausend Mitglieder, die meisten von ihnen sind mit dem richtigen Namen und dem richtigen Profilbild zu sehen. Ein Novum in der arabischen Welt. „Die Ägypter sind nicht von Natur aus so religiös, wie die Islamisten versuchen, uns weiszumachen. Ich vermute in jeder ägyptischen Familie einen Atheisten oder zumindest einen islamkritischen Menschen, der nur aus Angst vor seiner Umgebung schweigt“, sagt Momen.
Eine Begegnung mit Islamisten in einer Moschee in Altkairo Mitte Februar war für ihn ein Schlüsselerlebnis. Dort lud ein Gelehrter der Muslimbrüder zu einem Vortrag ein. Titel: „Wie denkt ein Atheist?“ Momen und drei seiner Freunde schleusten sich in die überfüllte Moschee. Achtzig Minuten lang, so berichtet Momen, habe der Scheich „sinnloses Zeug“ über den Atheismus und die Evolutionstheorie erzählt. Als die Diskussion losging, stellt Momen fest, dass die Mehrheit der Anwesenden Atheisten waren, die über die sozialen Netzwerke vom Vortrag erfahren hatten.
Auch Frauen, die Kopftücher trugen, hatten keine Hemmungen, sich als Atheistinnen zu bezeichnen. Die meisten von ihnen waren gebildete Ex-Muslime, die sich in der Naturwissenschaft gut auskannten und den Vortragenden wegen seiner falschen wissenschaftlichen Theorien vorführten. „Wir haben die Gläubigen in ihrem Zuhause geschlagen“, sagt Momen stolz. Er wollte mehr Ägypter erreichen, deshalb gründete er die Bewegung „Die Säkularen“, die nun in Kairo, Alexandria und drei weiteren ägyptischen Provinzen aktiv ist. Dort organisiert man Diskussionsveranstaltungen, um über die Prinzipien des Säkularismus aufzuklären. Denn der Begriff hat, fast so sehr wie der Begriff „Atheismus“, für viele Muslime einen negativen Beigeschmack.
Eigentlich hatte Momen nicht vor, seinen Atheismus politisch zu thematisieren. „Aber wenn der Glaube politisch ist, ist mein Nichtglaube automatisch auch politisch. Solange Ungläubige verfolgt werden, solange die Religion sich in die privaten Angelegenheiten der Menschen einmischt, kann meine Abwendung von der Religion nicht Privatsache bleiben“, sagt er.
Höchst politisch wird die Bewegung, als Momen mich zu einem Vortrag einlädt. Ich ergreife das Wort zum Thema religiöser Faschismus. „Die faschistoiden Züge des Islam sind nicht erst mit dem Aufstieg der Muslimbrüder entstanden, sondern in der Urgeschichte des Islam begründet“, lautete meine zentrale These. Das Video der Veranstaltung verbreitet sich wie ein Lauffeuer durch das Internet. Einige Tage später ruft der Anführer der Terrorbewegung al-Dschamaa al-Islamiyya, Assem Abdel-Maged, nicht nur zu meiner Ermordung auf, sondern bedroht auch Momen, der neben mir saß und während des Vortrags zustimmend mit dem Kopf nickte.
Der Vortrag und die ganze Affäre darum haben der Bewegung viel Spott und Drohungen, aber auch viele Tausende neue Anhänger gebracht. „Im Kampf gegen den Islamismus haben viele von uns gezögert, aufs Ganze zu gehen. Viele von uns warteten am Rande des Schlachtfeldes und hatten Angst, sich am Kampf zu beteiligen. Dieser Vortrag hat uns gezwungen, zu offenbaren, was wir wirklich denken“, sagt Momen.
Ich bin der Meinung, dass Säkularismus [Trennung von Staat und Religion] in Ägypten mehr als nur eine Option ist. Er ist eine Bestimmung. Unklar ist nur, zu welchem Preis. Blut, würde die Geschichte sagen. Viel Blut. Die Islamisten haben sowohl eine pragmatische als auch eine selbstmörderische Tendenz. Es ist nicht abzusehen, welche der beiden Tendenzen siegen wird. In beiden Fällen werden die Radikalen verlieren, weil sie den Menschen nur leere Versprechen verkaufen können.
“Mein Leben besteht nicht aus Feinden“
Es ist das erste Mal seit einem Jahr, dass er in einem Straßencafé sitzt. Er wirkt auf mich sehr freundlich, aber distanziert. Seine Augen wandern unruhig umher, beobachten die Straße. Dabei macht er nicht den Eindruck, als würde er Angst haben. Er sucht nicht nach potenziellen Jägern, die ihn töten wollen, sondern nach Geschichten und Inspiration für seine Musik. Der Iraner Shahin Najafi[Bild links] beobachtet das Leben um sich, schöpft aus der Sehnsucht nach seiner Heimat den Stoff für seine Lieder. „Manchmal fühle ich mich wie ein Soldat im Krieg, der seine Feinde im Blick haben muss. Aber mein Leben besteht nicht nur aus Feinden. Mein Leben ist viel schöner“, sagt er.
Ich treffe ihn am 10. Mai 2013 in Berlin, am Jahrestag der Bücherverbrennung in Deutschland vor achtzig Jahren. Genau ein Jahr zuvor musste Shahin in den Untergrund gehen, die Ayatollahs in Iran hatten eine Todesfatwa gegen ihn erlassen. Auf ihn wurde ein Kopfgeld in Höhe von 100.000 Dollar ausgesetzt. Der Grund: ein Lied, in dem er in einem fiktiven Dialog mit einem Nachfahren des Propheten Mohammed von diesem verlangt zurückzukehren, um den Iran vor der Diktatur zu retten. Der heilige Naghi solle gleich viel Liebe, Viagra und Silikonbrüste für die Iraner mitbringen, um sie glücklich zu machen.
Shahin bestreitet, religiöse Inhalte bewusst zu nutzen, um zu provozieren: „Ich hatte nie die Absicht, die Religion anzugreifen. Das ist ein Vorwurf derer, die die Religion als ein Werkzeug der Unterdrückung missbrauchen. Ich beziehe den Stoff für meine Kunst aus allem, was mein Leben und das Leben der Iraner beeinflusst. Und dazu gehören auch die Religion und ihre Symbole. Mir geht es in erster Linie um die Kunst. Und meine Kunst hat kein bestimmtes Ziel außer der Freiheit.“
Schon im Iran war der rebellische Untergrundkünstler dem Regime ein Dorn im Auge, denn seine Mullah-kritischen Lieder waren sehr beliebt unter den jungen Iranern. Im Jahr 2004 wurde ein Konzert von Shahin in seiner Heimatstadt Bandar Anzali von Schlägerbanden des Regimes gestürmt. Er hatte gerade das Lied „Rish“ (Bart) gesungen, in ihm hatte er die Mullahs vorgeführt. Shahin wurde verhaftet und gefoltert, lebte eine Weile im Untergrund, bis ihm 2005 die Flucht nach Deutschland gelang.
Ich unterhalte mich mit Shahin über die Ähnlichkeit zwischen dem Mullah-Regime in seiner Heimat und dem Muslimbrüder-Regime in meiner Heimat Ägypten. Beide kamen nach einer friedlichen Revolution an die Macht, die Freiheit und Gerechtigkeit zum Ziel hatte. Beide waren trojanische Pferde, die Demokratie nutzten, um später die Demokratie zu vernichten. Es handelt sich in beiden Ländern um eine religiöse Diktatur, die extrem humorlos und allergisch gegen jede Form von Kritik ist. Auch in Ägypten werden nicht nur religionskritische Schriftsteller, sondern auch Künstler und Satiriker juristisch verfolgt und bedroht.
Nach einem Jahr im Untergrund gibt er an diesem Maiabend sein erstes Konzert. Der Saal in Berlin-Kreuzberg ist mit Shahins Fans überfüllt. Als er die Bühne betritt, tobt das Publikum, zum größten Teil Exiliraner. Bei jedem Lied ist die Solidarität und Verbundenheit des Publikums mit dem unruhigen Künstler spürbar. „Shahin bringt uns den Iran ganz nah. Er sagt in einem Satz, wofür andere ein Buch brauchen“, sagt eine junge Iranerin. Sein Fotograf Hamed Rowshangah hat ihn immer im Blick. Er versucht jede Geste von Shahin festzuhalten. „Dieser Mann ist eine Symbolfigur für uns. Mut und die Liebe zum Leben sind seine Botschaft an die iranische Jugend. Er schreit das laut, was viele im Iran denken, sich aber nicht zu sagen trauen. Er wehrt sich gegen die Herrschaft der Schriftgelehrten und gegen die Diktatur. Deshalb lieben wir ihn.“
Das Publikum singt fast jedes Lied mit, nur die neuen Songs kennen seine Fans noch nicht. Aber ein Lied hat er noch nicht gesungen, obwohl viele sich es gewünscht haben. „Naghi, Naghi“, schreien seine Fans, aber Shahin singt das Lied nicht, das ihm die Fatwa brachte. Hat er etwa Angst, oder will er nun seinen Frieden mit den Mullahs schließen? Natürlich nicht. Er hat das Beste nur bis zum Ende aufbewahrt: „Hi naghi“, schreit er, springt von der Bühne und genießt das Bad in der Menge, die mit ihm buchstäblich verschmilzt. „Ich bin ein Fisch. Bühne und Publikum sind mein Wasser. Ich kann ohne Auftritt nicht leben“, sagt Shahin, sehr glücklich über diesen Moment.
Aber ein Wunsch ist noch offen: Er will noch einmal in einem freien Iran auftreten. „Was ist das erste Lied, das du dort gerne singen würdest?“, frage ich ihn. „Ich denke, das Lied 'Istadeh Mordan' (stehend sterben).“ Jenes Lied, das Shahin in der schwierigen Zeit nach der Fatwa geschrieben hat. „Dieses Lied ist für mich und viele meine Landsleute ein Symbol des Widerstandes. Und dafür, dass man vielleicht bis zu seinem Tod für seine Überzeugung kämpfen sollte.“
“Was ist das für ein Glaube? Welcher Gott?“
Normalerweise führt der Tod eines Familienmitglieds eher dazu, dass jemand anfängt, über den Sinn von Leben und Tod nachzudenken, und so auch zum Glauben findet. Bei Nadya Zarrougi [Bild links] aus Tunesien war es genau umgekehrt. Die 25-jährige Kunststudentin hatte seit ihrer Kindheit eine sehr enge Beziehung zu ihrem Großvater; er hat niemanden mehr geliebt als sie. Als er im letzten Sommer starb, wollte Nadya ihn bis zum Grab in der tunesischen Provinzstadt Sfax begleiten.
Nach muslimischer Tradition darf keine Frau bei einer Beerdigung anwesend sein. Nadya widersetzte sich dieser Regel, schlich der Trauerprozession hinterher und beobachtete die Beerdigungszeremonie verborgen hinter einer kurzen Mauer des Friedhofs. Doch plötzlich störte ein Moralwächter ihren Moment des stillen Abschieds. Ein entfernter Verwandter hatte sie entdeckt, eilte zur Mauer, griff sie an und schimpfte los. „Hau ab, Frauen sind unrein und haben auf dem Friedhof nichts zu suchen. Deine Anwesenheit wird deinem Großvater nur Qual bringen. Geh!“
Nadya ging nach Hause und dachte zum ersten Mal über den Sinn ihrer Religion nach. „Was ist das für ein Glaube, der eine Mauer zwischen mir und meinen geliebten Großvater baut? Welcher Gott ist das, der einem Mann das Recht gibt, mich zu schlagen, nur weil er einen Penis hat?“ Ohne lange zu überlegen, holte Nadia eine Schermaschine und schor ihren Kopf kahl. „Mit meinem Haar war auch die Religion weg!“
Sie hört auf zu reden, holt eine Zigarette aus der Schachtel und raucht schweigend und weinend. Um uns im Restaurant sitzen viele Tunesier, an denen die Geschehnisse im Land offensichtlich spurlos vorbeigehen. Nadya verbrachte vor zweieinhalb Jahren vier Wochen auf der Straße, um gegen den langjährigen Diktator Ben Ali zu demonstrieren. Sie forderte mit Hunderttausenden Demonstranten Gerechtigkeit und Einhaltung der Menschenrechte. Sie ahnte damals nicht, dass bald die Islamisten die Macht übernehmen und eine neue Gesellschaftsordnung durchsetzen würden.
Früher war der Glaube in Tunesien eine Art Folklore und spielte kaum eine Rolle; Religion und Politik waren getrennt. Heute trauen sich sogar „Hardcore-Kommunisten“ nicht mehr zu sagen, dass sie laizistisch sind. Vor allem seit der Ermordung des linken Politikers Shukri Belaid im Dezember letzten Jahres wächst die Angst unter Oppositionellen und säkularen Intellektuellen. Selbstzensur macht sich bereit. Zwei Künstlerkollegen Nadyas wurden zu acht Jahren Haft verurteilt, weil sie Karikaturen des Propheten Mohammed im Internet veröffentlicht hatten. Die Empörung anderer Kollegen hielt sich in Grenzen. Nadya schämt sich, dass Tunesien, wo der arabische Frühling seinen Anfang nahm, nun von einer neuen Diktatur regiert wird.
Die islamistische Partei al-Nahda hat zwar nur 40 Prozent Zustimmung in der Bevölkerung, verfügt jedoch über eine gute Organisation und religiöse Eiferer, die Präsenz auf der Straße zeigen. Nachdem sie sich Jahrzehnte am Rande der Großstädte „wie Ratten“ versteckt hätten, eroberten sie nun die Innenstädte und versuchten, die Straße im rasanten Tempo zu islamisieren, beklagt die Kunststudentin. Auch islamistische Frauen sind aktiv geworden. Nadya wurde oft im Bus beschimpft, weil sie wie ein Mann aussieht und kein Kopftuch trägt. „Ich werde in dieser Gesellschaft dreifach diskriminiert: einmal weil ich Atheistin bin, einmal weil ich eine Frau bin. Und einmal weil ich eine Frau bin, die wie ein Mann ausschaut.“
Salafisten haben mehrere Bars, Bordelle und Musikveranstaltungen angegriffen. Die Provinzuniversität in Manouba wurde von Salafisten angegriffen, die tunesische Flagge wurde vom Uni-Gebäude heruntergerissen und an ihrer Stelle die Flagge der al-Qaida gehisst. Sie gehören zwar nicht zu al-Nahda, aber werden von ihr instrumentalisiert oder bewusst geduldet, einerseits um die Opposition zu verschrecken, andererseits um sich dem Westen als die moderatere Alternative zu verkaufen.
Nadya sucht verzweifelt nach Trost und findet ihn nur in der virtuellen Welt. Sie und ihr Freund Alaa sind in einer Facebook Seite für Konfessionslose aktiv. Immerhin 500 Mitglieder tauschen sich dort aus. Aber sie glaubt nicht, dass sich Tunesiens Atheisten wie ihre ägyptischen Kollegen erheben werden. Zu groß sind die Angst und die Gleichgültigkeit. Viele wünschen sich nun die Rückkehr Ben Alis, der oft gesagt hatte, dass er die Tunesier vor den Islamisten schütze.
Ich blieb eine Weile sprachlos, wollte aber das Gespräch nicht so beenden. „Kein Mensch hätte es damals für möglich gehalten, dass die Araber sich gegen die Diktatur erheben. Keiner hat es für möglich gehalten, dass die Tunesier damit anfangen. Vielleicht kommt bald die zweite Welle der Flut. Wir haben eine multiple Diktatur in unseren Ländern. Die eine Schicht ist weg, nun taucht die zweite Schicht. Wir müssen durch!“ Ich weiß nicht ob ich ihr das sagte, um ihr oder mir selbst Mut zu machen.
“Wie kann man die Freiheit nicht schätzen?“
Nach einem Vortrag im Theater Neumarkt in Zürich im vergangenen Mai kamen zwei Männer auf mich zu, die unterschiedlicher nicht sein könnten, obwohl sich ihre Geschichten durchaus ähneln. Der 30-jährige Nicolas Blancho, der in einer liberalen Familie im Schweizer Biel konfessionslos aufwuchs und früher zur Hip-Hop- und Punk-Szene gehörte, konvertierte im Alter von 16 Jahren zum Islam und wurde Salafist. Der 23-jährige Marokkaner Kacem El Ghazzali, der aus einer konservativen muslimischen Familie stammt, schwor vor Jahren dem Glauben ab und wurde Atheist. Er lebt seit zwei Jahren in der Schweiz und versucht von dort aus, Atheisten in seiner Heimat zu unterstützen.
Dem Schweizer Blancho dagegen fehlten in der offenen und freien Gesellschaft wohl Regeln und moralische Orientierung für seinen Alltag; er fand sie in den klaren Strukturen des orthodoxen Islam. Sein ehemalige Lehrer Alain Pichard sagte in einem Interview mit dem „Tagesanzeiger“ im April 2010 über ihn, er sei ein mittelmäßiger Schüler gewesen, „der ein wenig ziellos, fast verloren wirkte“. Erst mit dem Beitritt zum Islam wurde er selbstbewusster, schaffte seine Matura und studierte Islamwissenschaften und Jura an der Universität Bern.
Der Marokkaner Kacem dagegen verließ den Islam, weil er sich von den strengen Regeln der Religion und von der moralischen Bevormundung in seinem Heimatland erdrückt fühlte. Er hatte seine Jugend in einer Internat-Koranschule in der Nähe von Casablanca[Marokko] verbracht, wo er die salafistische weiße Tracht tragen musste, westliche Kleidung war verboten. Sein Vater hatte Angst vor dem Einfluss falscher Freunde auf seinen Sohn, deshalb kaufte er ihm einen PC.
Der wurde Kacems Fenster zu einer neuen Welt. Er verbrachte Stunden vor dem Rechner, lernte neue Gedanken kennen und las in Blogs im Internet Sachen, die er aus der Schule und der Moschee nicht kannte, von der Evolutionstheorie etwa oder internationale Literatur. Er traf auf eine neue Lern- und Diskussionskultur. In der Schule und der Moschee hatte es eine vertikale [einseitige] Beziehung zwischen dem Lehrer beziehungsweise dem Imam und dem Schüler oder Betenden gegeben. Der eine sprach, der andere schwieg. Im Internet war das Lernen interaktiv – und: Die Diskussionspartner waren gleichberechtigt.
Blancho wechselte nicht nur seine Religion, sondern gründete auch den Islamischen Zentralrat in der Schweiz, der junge Schweizer zum Salafismus verführen sollte. Früher sprach er sich sogar für die Einführung der Scharia in der Schweiz aus; sie sieht etwa die Steinigung von Ehebrecherinnen und die Hinrichtung von Apostaten [Menschn, die aus dem Islam austreten] vor. Heute ist er mit seiner Wortwahl vorsichtiger geworden. Er bezeichnet die Steinigung zwar als „einen Bestandteil, einen Wert seiner Religion“, der aber im Schweizer Kontext nicht zur Anwendung kommen solle. Der umstrittene Islamwissenschaftler Tariq Ramadan sieht Blancho und den Islamischen Zentralrat Schweiz als „Sektierer ohne Basis“ und als „eine Randerscheinung in der muslimischen Landschaft“, die nicht die Muslime in der Schweiz repräsentiere.
Markus Seiler, Direktor vom Nachrichtendienst des Bundes, befand im Mai 2010: „Es geht beim Islamischen Zentralrat der Schweiz um ideologischen, nicht um gewalttätigen Extremismus.“ Man übersieht dabei, dass die wahabitische Ideologie, die Blancho verbreitet, zwar nicht zur Gewalt aufruft, ihr aber den Weg ebnet. Wer andere Menschen als Sünder und gar Ungläubige bezeichnet, entmenschlicht sie. Wer davon ausgeht, dass Sünder in der Hölle schmoren werden, hält sie nicht für Menschen, die die gleichen Rechte haben wie er, sondern entzieht ihnen die Existenzberechtigung.
Kacem wurde in Marokko im Namen der Scharia geschlagen und mit dem Tode bedroht, bis er das Land verließ. Dennoch versucht er niemanden zum Atheismus zu bekehren. Er wurde Menschenrechtsaktivist und kämpft für Glaubens- und Meinungsfreiheit. Die Grenzen der Meinungsfreiheit sieht er nur verletzt, wenn jemand zur Gewalt aufruft. Deshalb wehrt er sich gegen diejenigen, die versuchen, die Schweiz noch radikaler zu prägen als das Land, aus dem er fliehen musste. „Ich bin nicht vor der Scharia in Marokko geflohen, um sie in der Schweiz wiederzuhaben“, sagt er.
Kacem und Nicolas kannten sich bis zu diesem Treffen in Zürich nicht persönlich, hatten aber einige Monate zuvor einen indirekten Streit. Als der Zentralrat der Muslime den radikalen saudischen Prediger Mohamed al-Arifi zu einem Vortrag in Fribourg Mitte Dezember 2012 einlud, organisierte Kacem eine erfolgreiche Kampagne, die al-Arifis Einreise verhinderte. Grund dafür waren vergangene Fernsehauftritte des Predigers: Er hatte sich in TV-Sendungen etwa für das Recht des Mannes ausgesprochen, seine Frau zu schlagen, oder behauptet, dass europäische Frauen Sex mit Hunden hätten und dass 54 Prozent der dänischen Frauen nicht wüssten, wer der Vater ihrer Kinder sei.
Kacem kann nicht begreifen, wieso ein Mensch wie Blancho, der in der Freiheit aufgewachsen ist, diese Freiheit nicht schätzt, und warum Menschen, die Kant und Voltaire lesen, primitive Prediger wie al-Arifi brauchen. Zwischen den beiden Konvertiten entwickelte sich vor meinen Augen eine Debatte über die Scharia in der Schweiz. Blancho sah keinen Widerspruch zwischen dem islamischen Recht und dem Schweizer Gesetz.
Kacem konterte und fragte nach der Polygamie, die im Islam erlaubt, in der Schweiz aber verboten ist. Blancho antwortete: „Das Gesetz macht es möglich, dass zwei Männer in der Schweiz heiraten dürfen. Wenn man das akzeptiert, muss man auch akzeptieren, dass muslimische Männer mehr Frauen heiraten dürfen. Das nennt man Gleichberechtigung.“ Es ist interessant, wie oft Begriffe wie Freiheit oder Gleichberechtigung von Salafisten missbraucht werden. Niemals geht es um die Gleichberechtigung oder Freiheit anderer, wenn sie davon reden, sondern von den Vorteilen, die sie selbst daraus ziehen. [1]
“Ich musste die Angst loswerden“
Nach dem Sturz der Diktaturen in Ägypten und Tunesien wurde das Königshaus in Marokko unruhig und entschied sich, eine sanfte, kontrollierte Revolution zuzulassen. Studenten und Islamisten gingen auf die Straße und forderten Reformen. Die Wut der Bürger richtete sich nicht gegen den beliebten König Mohammed VI., sondern gegen die linke Regierung. Eine neue, dem Anschein nach freiheitliche Verfassung wurde in Windeseile verabschiedet, um die liberalen Kräfte zufriedenzustellen. Wahlen fanden statt, und die Islamisten durften zum ersten Mal in der Geschichte des Landes die Regierung bilden.
Der junge Blogger Imadeddine Adib [Bild links] wollte die neue Verfassung testen. Im Artikel 3 wird die Glaubens- und Gewissensfreiheit garantiert. Er kündigte also die Gründung des Zentralrates der Ex-Muslime in Marokko an. Eine Woche später stellte der höchste Gelehrtenrat, der ein Verfassungsorgan ist und vom König selbst geleitet wird, eine Fatwa aus, die die Hinrichtung als Strafe für Apostaten vorsieht.
Imad weiß, dass die marokkanische Justiz nicht tatsächlich imstande ist, ein Todesurteil gegen einen Apostaten zu fällen, da der König sein Image im Westen als reformorientierter Monarch nicht beschädigen will. Es handele sich nur um einen billigen Flirt mit den Islamisten, meint er. Aber die Gefährlichkeit dieser Fatwa liegt darin, dass naive religiöse Eiferer sich dadurch ermächtigt fühlen, eigenhändig Apostaten zu töten, wo auch immer sie sie finden. „Wie soll die Justiz mit dem Täter dann umgehen? Er hat nur den Gotteswillen, wie er in der Fatwa [islamisches Rechtsgutachten] steht, vollstreckt!“
Dennoch ließ sich Imad von der Fatwa nicht beeindrucken. Mit einer weiteren Provokation wollte er die Verfassung endgültig als Farce entlarven. Imad gründete mit dem im Züricher Exil lebenden Ex-Muslim Kacem El Ghazzali [siehe oben] die Bewegung „masayminsh“, zu Deutsch: „Wir fasten nicht“. „Zur Glaubensfreiheit gehört doch das Recht, sich an die religiösen Gebote nicht halten zu müssen“, sagt er.
Seine Bewegung rief nicht nur zum Boykott des Fastenmonats Ramadan auf, sondern organisierte auch öffentliche Workshops für Konfessionslose. Als die Bewegung breite Zustimmung unter jungen Marokkaner fand, wurde Imad von der Polizei per Haftbefehl gesucht. Seine Familie wandte sich von ihm ab. Auch seine säkularen Freunde warfen ihm vor, zu weit gegangen zu sein. Wenige Monate vor dem Abschluss seines Studiums am Institut für Physiotherapie musste Imad untertauchen, ohne Geld und ohne Perspektive. Sollte er verhaftet werden, könnte er zu fünfzehn Jahre Haft verurteilt werden.
Ich treffe Imad in Casablanca, und kann kaum glauben, dass ich vor einem 22-Jährigen stehe. Er wirkt alt, verbittert und gestresst. Enttäuscht ist er in erster Linie von seinen Freunden, die sich Freiheitskämpfer und Menschenrechtler nennen, aber zugleich von ihm distanzieren und ihm sogar vorwerfen, ihrer Sache durch seine „unnötigen Provokationen“ geschadet zu haben. Imad weiß, dass die Zeit noch nicht reif ist für solche Gedanken, aber für ihn ist die Freiheit nicht teilbar. „Wenn alle denken, es sei nicht die richtige Zeit, wird die richtige Zeit nie kommen. Irgendjemand muss es ja irgendwann sagen. Ich lebe jetzt und will die Freiheit jetzt“, sagt er.
Imad wurde bereits mit 14 Atheist. Sein Koranlehrer hatte ihm gruselige Geschichten von den Qualen der Hölle erzählt, lange hatte er Albträume. „Ich war bereit, alles zu tun, um diese Angst loszuwerden. Am Ende blieb mir nichts anderes übrig, als den Koran abzulehnen. Ich habe mir in einer Nacht gesagt: Es gibt keinen Gott, und den Koran hat nur ein Mensch aus der Wüste geschrieben. Das war meine Befreiung. Danach hatte ich keine Albträume und keine Schuldgefühle mehr.“
Die Lösung, für ihn war sie so einfach. Deshalb kann er nicht verstehen, warum Millionen von Gläubigen sich das Leben so schwer machen, warum Menschen andere für eine für ihn fiktive Figur namens Gott töten. „Religion bedeutet Überwachung. Und Überwachung führt zu Paranoia und Schizophrenie. Schauen Sie sich unsere Gesellschaft an. Die meisten sind doch krank.“
Es gibt unzählige Atheisten in Marokko, aber alle leben immer noch vor allem in der virtuellen Welt [im Internet]. Wer sich in der realen Welt zeigt, wird sofort verfolgt. Eine Religion, die von sich behauptet, die letzte und perfekteste Religion zu sein, hält keine Kritik aus. „Wenn es tatsächlich einen Gott gäbe, was schadete es ihm dann, dass ich an ihn nicht glaube?“, fragt Imad.
Es gehe nicht um Gott und die Religion, sondern um die Macht des Königs, der „das Oberhaupt der Gläubigen“ genannt wird und somit eine zusätzliche Legitimation in Zeiten des Umbruchs bekommt. Wer die Unantastbarkeit der Religion infrage stellt, stellt auch die absolute Macht des Königs infrage. „Vermutlich denkt der König über die Religion genau wie ich, aber er kann es nicht sagen. Aber warum soll er die Menschen aufklären, wenn er selbst von ihrer Dummheit profitiert?“, sagt Imad.
Vor einigen Wochen hatte Imad kein Geld mehr und besuchte einen Freund, der in einer internationalen Menschenrechtsorganisation arbeitet, um ihn nach einem Ausweg zu fragen. Der Freund teilte ihm mit, dass man für ihn nichts tun könne, weil er sich selbst von innen eingesperrt habe. Er empfahl Imad, zu einem Psychiater zu gehen, der ihm attestieren solle, dass er mentale Störung habe. Oder er solle auf seiner Facebook-Seite Reue zeigen und das Glaubensbekenntnis des Islam, „Es gib keinen Gott außer Allah“, posten. Nur so sei er noch zu retten. Imad ging müde und enttäuscht zurück in sein Versteck, öffnete seinen Laptop und postete auf Facebook: „Es gibt keinen Gott außer Mickymaus!“
Die Anmerkungen in eckigen Klammern sind vom Admin.
Quelle: Islam: „Was ist das für ein Glaube? Was für ein Gott?“
Siehe auch:
Hamed Abdel-Samad: „Die Moschee ist kein Ort der Integration“
Hamed Abdel-Samad: Mein Abschied vom Himmel
Hamed Abdel-Samad: Zum Wissen konvertiert
Hamed Abdel-Samad: „Der Islam wird als Kultur untergehen.“
Hamed Abdel-Samad: Der Islam ist wie eine Droge
Hamed Abdel-Samad: Arabischer Winter - Zutaten für einen Weltkrieg
Video: Thorsten Stecher im Gespräch mit Hamed Abdel Samad
Junge Menschen in Ägypten, in Tunesien, im Iran und in Marokko kämpfen gegen die weltliche Macht des Islam. Sie lehnen den Zwang der Religion ab, die Vorschriften der alten Männer und den Tugendterror.
Bild links: Hamed Abdel-Samad.
Der arabische Frühling hat einen Kampf der Kulturen entfesselt. In Ländern wie Ägypten, Iran, Marokko und Tunesien streiten säkulare und religiöse Kräfte seit zwei Jahren darüber, wie viel Einfluss Religion auf den Staat, auf die Gesetzgebung nehmen darf. Immer häufiger zeigen sich inzwischen arabische Atheisten öffentlich und mischen sich in die politische Debatte ein.
Der Ägypter Hamed Abdel-Samad traf Menschen, die in dieser schwierigen Lage und trotz Lebensgefahr ihre Stimme erheben. Unser Autor weiß, was das bedeutet: Er geriet selbst zwischen die Fronten und wird mit dem Tode bedroht.
“Wir haben die Gläubigen in ihrem Zuhause geschlagen“
Sein Name bedeutet eigentlich das Gegenteil seiner Gesinnung. Momen, das heißt auf Arabisch „gläubig“. Doch Momen ist seit vier Jahren Atheist. Er ist 21 Jahre alt und studiert Ingenieurswissenschaft an der religiösen Universität al-Azhar in Kairo, die als Zentrum des sunnitischen Islam gilt. Zwei Jahre behielt seinen Abfall vom islamischen Glauben für sich. Erst nachdem die Massenbewegung Präsident Mubarak zum Sturz gebracht hatte, nahm er seinen Mut zusammen und teilte seiner Familie und seinen engen Freunden mit, dass er nicht mehr an Gott glaubte. Viele in seiner Umgebung waren schockiert; doch er stellte fest, dass er nicht der Einzige war. Viele Freunde hatten eine ähnliche Einstellung. Doch sie trauten sich nicht, sich zu outen.
Momen gründete mit ein paar Freunden eine Facebook-Seite, sie nannten sie „Vereinigung ägyptischer Atheisten“. Binnen Monaten hatte die Seite mehrere Tausend Mitglieder, die meisten von ihnen sind mit dem richtigen Namen und dem richtigen Profilbild zu sehen. Ein Novum in der arabischen Welt. „Die Ägypter sind nicht von Natur aus so religiös, wie die Islamisten versuchen, uns weiszumachen. Ich vermute in jeder ägyptischen Familie einen Atheisten oder zumindest einen islamkritischen Menschen, der nur aus Angst vor seiner Umgebung schweigt“, sagt Momen.
Eine Begegnung mit Islamisten in einer Moschee in Altkairo Mitte Februar war für ihn ein Schlüsselerlebnis. Dort lud ein Gelehrter der Muslimbrüder zu einem Vortrag ein. Titel: „Wie denkt ein Atheist?“ Momen und drei seiner Freunde schleusten sich in die überfüllte Moschee. Achtzig Minuten lang, so berichtet Momen, habe der Scheich „sinnloses Zeug“ über den Atheismus und die Evolutionstheorie erzählt. Als die Diskussion losging, stellt Momen fest, dass die Mehrheit der Anwesenden Atheisten waren, die über die sozialen Netzwerke vom Vortrag erfahren hatten.
Auch Frauen, die Kopftücher trugen, hatten keine Hemmungen, sich als Atheistinnen zu bezeichnen. Die meisten von ihnen waren gebildete Ex-Muslime, die sich in der Naturwissenschaft gut auskannten und den Vortragenden wegen seiner falschen wissenschaftlichen Theorien vorführten. „Wir haben die Gläubigen in ihrem Zuhause geschlagen“, sagt Momen stolz. Er wollte mehr Ägypter erreichen, deshalb gründete er die Bewegung „Die Säkularen“, die nun in Kairo, Alexandria und drei weiteren ägyptischen Provinzen aktiv ist. Dort organisiert man Diskussionsveranstaltungen, um über die Prinzipien des Säkularismus aufzuklären. Denn der Begriff hat, fast so sehr wie der Begriff „Atheismus“, für viele Muslime einen negativen Beigeschmack.
Eigentlich hatte Momen nicht vor, seinen Atheismus politisch zu thematisieren. „Aber wenn der Glaube politisch ist, ist mein Nichtglaube automatisch auch politisch. Solange Ungläubige verfolgt werden, solange die Religion sich in die privaten Angelegenheiten der Menschen einmischt, kann meine Abwendung von der Religion nicht Privatsache bleiben“, sagt er.
Höchst politisch wird die Bewegung, als Momen mich zu einem Vortrag einlädt. Ich ergreife das Wort zum Thema religiöser Faschismus. „Die faschistoiden Züge des Islam sind nicht erst mit dem Aufstieg der Muslimbrüder entstanden, sondern in der Urgeschichte des Islam begründet“, lautete meine zentrale These. Das Video der Veranstaltung verbreitet sich wie ein Lauffeuer durch das Internet. Einige Tage später ruft der Anführer der Terrorbewegung al-Dschamaa al-Islamiyya, Assem Abdel-Maged, nicht nur zu meiner Ermordung auf, sondern bedroht auch Momen, der neben mir saß und während des Vortrags zustimmend mit dem Kopf nickte.
Der Vortrag und die ganze Affäre darum haben der Bewegung viel Spott und Drohungen, aber auch viele Tausende neue Anhänger gebracht. „Im Kampf gegen den Islamismus haben viele von uns gezögert, aufs Ganze zu gehen. Viele von uns warteten am Rande des Schlachtfeldes und hatten Angst, sich am Kampf zu beteiligen. Dieser Vortrag hat uns gezwungen, zu offenbaren, was wir wirklich denken“, sagt Momen.
Ich bin der Meinung, dass Säkularismus [Trennung von Staat und Religion] in Ägypten mehr als nur eine Option ist. Er ist eine Bestimmung. Unklar ist nur, zu welchem Preis. Blut, würde die Geschichte sagen. Viel Blut. Die Islamisten haben sowohl eine pragmatische als auch eine selbstmörderische Tendenz. Es ist nicht abzusehen, welche der beiden Tendenzen siegen wird. In beiden Fällen werden die Radikalen verlieren, weil sie den Menschen nur leere Versprechen verkaufen können.
“Mein Leben besteht nicht aus Feinden“
Es ist das erste Mal seit einem Jahr, dass er in einem Straßencafé sitzt. Er wirkt auf mich sehr freundlich, aber distanziert. Seine Augen wandern unruhig umher, beobachten die Straße. Dabei macht er nicht den Eindruck, als würde er Angst haben. Er sucht nicht nach potenziellen Jägern, die ihn töten wollen, sondern nach Geschichten und Inspiration für seine Musik. Der Iraner Shahin Najafi[Bild links] beobachtet das Leben um sich, schöpft aus der Sehnsucht nach seiner Heimat den Stoff für seine Lieder. „Manchmal fühle ich mich wie ein Soldat im Krieg, der seine Feinde im Blick haben muss. Aber mein Leben besteht nicht nur aus Feinden. Mein Leben ist viel schöner“, sagt er.
Ich treffe ihn am 10. Mai 2013 in Berlin, am Jahrestag der Bücherverbrennung in Deutschland vor achtzig Jahren. Genau ein Jahr zuvor musste Shahin in den Untergrund gehen, die Ayatollahs in Iran hatten eine Todesfatwa gegen ihn erlassen. Auf ihn wurde ein Kopfgeld in Höhe von 100.000 Dollar ausgesetzt. Der Grund: ein Lied, in dem er in einem fiktiven Dialog mit einem Nachfahren des Propheten Mohammed von diesem verlangt zurückzukehren, um den Iran vor der Diktatur zu retten. Der heilige Naghi solle gleich viel Liebe, Viagra und Silikonbrüste für die Iraner mitbringen, um sie glücklich zu machen.
Shahin bestreitet, religiöse Inhalte bewusst zu nutzen, um zu provozieren: „Ich hatte nie die Absicht, die Religion anzugreifen. Das ist ein Vorwurf derer, die die Religion als ein Werkzeug der Unterdrückung missbrauchen. Ich beziehe den Stoff für meine Kunst aus allem, was mein Leben und das Leben der Iraner beeinflusst. Und dazu gehören auch die Religion und ihre Symbole. Mir geht es in erster Linie um die Kunst. Und meine Kunst hat kein bestimmtes Ziel außer der Freiheit.“
Schon im Iran war der rebellische Untergrundkünstler dem Regime ein Dorn im Auge, denn seine Mullah-kritischen Lieder waren sehr beliebt unter den jungen Iranern. Im Jahr 2004 wurde ein Konzert von Shahin in seiner Heimatstadt Bandar Anzali von Schlägerbanden des Regimes gestürmt. Er hatte gerade das Lied „Rish“ (Bart) gesungen, in ihm hatte er die Mullahs vorgeführt. Shahin wurde verhaftet und gefoltert, lebte eine Weile im Untergrund, bis ihm 2005 die Flucht nach Deutschland gelang.
Ich unterhalte mich mit Shahin über die Ähnlichkeit zwischen dem Mullah-Regime in seiner Heimat und dem Muslimbrüder-Regime in meiner Heimat Ägypten. Beide kamen nach einer friedlichen Revolution an die Macht, die Freiheit und Gerechtigkeit zum Ziel hatte. Beide waren trojanische Pferde, die Demokratie nutzten, um später die Demokratie zu vernichten. Es handelt sich in beiden Ländern um eine religiöse Diktatur, die extrem humorlos und allergisch gegen jede Form von Kritik ist. Auch in Ägypten werden nicht nur religionskritische Schriftsteller, sondern auch Künstler und Satiriker juristisch verfolgt und bedroht.
Nach einem Jahr im Untergrund gibt er an diesem Maiabend sein erstes Konzert. Der Saal in Berlin-Kreuzberg ist mit Shahins Fans überfüllt. Als er die Bühne betritt, tobt das Publikum, zum größten Teil Exiliraner. Bei jedem Lied ist die Solidarität und Verbundenheit des Publikums mit dem unruhigen Künstler spürbar. „Shahin bringt uns den Iran ganz nah. Er sagt in einem Satz, wofür andere ein Buch brauchen“, sagt eine junge Iranerin. Sein Fotograf Hamed Rowshangah hat ihn immer im Blick. Er versucht jede Geste von Shahin festzuhalten. „Dieser Mann ist eine Symbolfigur für uns. Mut und die Liebe zum Leben sind seine Botschaft an die iranische Jugend. Er schreit das laut, was viele im Iran denken, sich aber nicht zu sagen trauen. Er wehrt sich gegen die Herrschaft der Schriftgelehrten und gegen die Diktatur. Deshalb lieben wir ihn.“
Das Publikum singt fast jedes Lied mit, nur die neuen Songs kennen seine Fans noch nicht. Aber ein Lied hat er noch nicht gesungen, obwohl viele sich es gewünscht haben. „Naghi, Naghi“, schreien seine Fans, aber Shahin singt das Lied nicht, das ihm die Fatwa brachte. Hat er etwa Angst, oder will er nun seinen Frieden mit den Mullahs schließen? Natürlich nicht. Er hat das Beste nur bis zum Ende aufbewahrt: „Hi naghi“, schreit er, springt von der Bühne und genießt das Bad in der Menge, die mit ihm buchstäblich verschmilzt. „Ich bin ein Fisch. Bühne und Publikum sind mein Wasser. Ich kann ohne Auftritt nicht leben“, sagt Shahin, sehr glücklich über diesen Moment.
Aber ein Wunsch ist noch offen: Er will noch einmal in einem freien Iran auftreten. „Was ist das erste Lied, das du dort gerne singen würdest?“, frage ich ihn. „Ich denke, das Lied 'Istadeh Mordan' (stehend sterben).“ Jenes Lied, das Shahin in der schwierigen Zeit nach der Fatwa geschrieben hat. „Dieses Lied ist für mich und viele meine Landsleute ein Symbol des Widerstandes. Und dafür, dass man vielleicht bis zu seinem Tod für seine Überzeugung kämpfen sollte.“
“Was ist das für ein Glaube? Welcher Gott?“
Normalerweise führt der Tod eines Familienmitglieds eher dazu, dass jemand anfängt, über den Sinn von Leben und Tod nachzudenken, und so auch zum Glauben findet. Bei Nadya Zarrougi [Bild links] aus Tunesien war es genau umgekehrt. Die 25-jährige Kunststudentin hatte seit ihrer Kindheit eine sehr enge Beziehung zu ihrem Großvater; er hat niemanden mehr geliebt als sie. Als er im letzten Sommer starb, wollte Nadya ihn bis zum Grab in der tunesischen Provinzstadt Sfax begleiten.
Nach muslimischer Tradition darf keine Frau bei einer Beerdigung anwesend sein. Nadya widersetzte sich dieser Regel, schlich der Trauerprozession hinterher und beobachtete die Beerdigungszeremonie verborgen hinter einer kurzen Mauer des Friedhofs. Doch plötzlich störte ein Moralwächter ihren Moment des stillen Abschieds. Ein entfernter Verwandter hatte sie entdeckt, eilte zur Mauer, griff sie an und schimpfte los. „Hau ab, Frauen sind unrein und haben auf dem Friedhof nichts zu suchen. Deine Anwesenheit wird deinem Großvater nur Qual bringen. Geh!“
Nadya ging nach Hause und dachte zum ersten Mal über den Sinn ihrer Religion nach. „Was ist das für ein Glaube, der eine Mauer zwischen mir und meinen geliebten Großvater baut? Welcher Gott ist das, der einem Mann das Recht gibt, mich zu schlagen, nur weil er einen Penis hat?“ Ohne lange zu überlegen, holte Nadia eine Schermaschine und schor ihren Kopf kahl. „Mit meinem Haar war auch die Religion weg!“
Sie hört auf zu reden, holt eine Zigarette aus der Schachtel und raucht schweigend und weinend. Um uns im Restaurant sitzen viele Tunesier, an denen die Geschehnisse im Land offensichtlich spurlos vorbeigehen. Nadya verbrachte vor zweieinhalb Jahren vier Wochen auf der Straße, um gegen den langjährigen Diktator Ben Ali zu demonstrieren. Sie forderte mit Hunderttausenden Demonstranten Gerechtigkeit und Einhaltung der Menschenrechte. Sie ahnte damals nicht, dass bald die Islamisten die Macht übernehmen und eine neue Gesellschaftsordnung durchsetzen würden.
Früher war der Glaube in Tunesien eine Art Folklore und spielte kaum eine Rolle; Religion und Politik waren getrennt. Heute trauen sich sogar „Hardcore-Kommunisten“ nicht mehr zu sagen, dass sie laizistisch sind. Vor allem seit der Ermordung des linken Politikers Shukri Belaid im Dezember letzten Jahres wächst die Angst unter Oppositionellen und säkularen Intellektuellen. Selbstzensur macht sich bereit. Zwei Künstlerkollegen Nadyas wurden zu acht Jahren Haft verurteilt, weil sie Karikaturen des Propheten Mohammed im Internet veröffentlicht hatten. Die Empörung anderer Kollegen hielt sich in Grenzen. Nadya schämt sich, dass Tunesien, wo der arabische Frühling seinen Anfang nahm, nun von einer neuen Diktatur regiert wird.
Die islamistische Partei al-Nahda hat zwar nur 40 Prozent Zustimmung in der Bevölkerung, verfügt jedoch über eine gute Organisation und religiöse Eiferer, die Präsenz auf der Straße zeigen. Nachdem sie sich Jahrzehnte am Rande der Großstädte „wie Ratten“ versteckt hätten, eroberten sie nun die Innenstädte und versuchten, die Straße im rasanten Tempo zu islamisieren, beklagt die Kunststudentin. Auch islamistische Frauen sind aktiv geworden. Nadya wurde oft im Bus beschimpft, weil sie wie ein Mann aussieht und kein Kopftuch trägt. „Ich werde in dieser Gesellschaft dreifach diskriminiert: einmal weil ich Atheistin bin, einmal weil ich eine Frau bin. Und einmal weil ich eine Frau bin, die wie ein Mann ausschaut.“
Salafisten haben mehrere Bars, Bordelle und Musikveranstaltungen angegriffen. Die Provinzuniversität in Manouba wurde von Salafisten angegriffen, die tunesische Flagge wurde vom Uni-Gebäude heruntergerissen und an ihrer Stelle die Flagge der al-Qaida gehisst. Sie gehören zwar nicht zu al-Nahda, aber werden von ihr instrumentalisiert oder bewusst geduldet, einerseits um die Opposition zu verschrecken, andererseits um sich dem Westen als die moderatere Alternative zu verkaufen.
Nadya sucht verzweifelt nach Trost und findet ihn nur in der virtuellen Welt. Sie und ihr Freund Alaa sind in einer Facebook Seite für Konfessionslose aktiv. Immerhin 500 Mitglieder tauschen sich dort aus. Aber sie glaubt nicht, dass sich Tunesiens Atheisten wie ihre ägyptischen Kollegen erheben werden. Zu groß sind die Angst und die Gleichgültigkeit. Viele wünschen sich nun die Rückkehr Ben Alis, der oft gesagt hatte, dass er die Tunesier vor den Islamisten schütze.
Ich blieb eine Weile sprachlos, wollte aber das Gespräch nicht so beenden. „Kein Mensch hätte es damals für möglich gehalten, dass die Araber sich gegen die Diktatur erheben. Keiner hat es für möglich gehalten, dass die Tunesier damit anfangen. Vielleicht kommt bald die zweite Welle der Flut. Wir haben eine multiple Diktatur in unseren Ländern. Die eine Schicht ist weg, nun taucht die zweite Schicht. Wir müssen durch!“ Ich weiß nicht ob ich ihr das sagte, um ihr oder mir selbst Mut zu machen.
“Wie kann man die Freiheit nicht schätzen?“
Nach einem Vortrag im Theater Neumarkt in Zürich im vergangenen Mai kamen zwei Männer auf mich zu, die unterschiedlicher nicht sein könnten, obwohl sich ihre Geschichten durchaus ähneln. Der 30-jährige Nicolas Blancho, der in einer liberalen Familie im Schweizer Biel konfessionslos aufwuchs und früher zur Hip-Hop- und Punk-Szene gehörte, konvertierte im Alter von 16 Jahren zum Islam und wurde Salafist. Der 23-jährige Marokkaner Kacem El Ghazzali, der aus einer konservativen muslimischen Familie stammt, schwor vor Jahren dem Glauben ab und wurde Atheist. Er lebt seit zwei Jahren in der Schweiz und versucht von dort aus, Atheisten in seiner Heimat zu unterstützen.
Dem Schweizer Blancho dagegen fehlten in der offenen und freien Gesellschaft wohl Regeln und moralische Orientierung für seinen Alltag; er fand sie in den klaren Strukturen des orthodoxen Islam. Sein ehemalige Lehrer Alain Pichard sagte in einem Interview mit dem „Tagesanzeiger“ im April 2010 über ihn, er sei ein mittelmäßiger Schüler gewesen, „der ein wenig ziellos, fast verloren wirkte“. Erst mit dem Beitritt zum Islam wurde er selbstbewusster, schaffte seine Matura und studierte Islamwissenschaften und Jura an der Universität Bern.
Der Marokkaner Kacem dagegen verließ den Islam, weil er sich von den strengen Regeln der Religion und von der moralischen Bevormundung in seinem Heimatland erdrückt fühlte. Er hatte seine Jugend in einer Internat-Koranschule in der Nähe von Casablanca[Marokko] verbracht, wo er die salafistische weiße Tracht tragen musste, westliche Kleidung war verboten. Sein Vater hatte Angst vor dem Einfluss falscher Freunde auf seinen Sohn, deshalb kaufte er ihm einen PC.
Der wurde Kacems Fenster zu einer neuen Welt. Er verbrachte Stunden vor dem Rechner, lernte neue Gedanken kennen und las in Blogs im Internet Sachen, die er aus der Schule und der Moschee nicht kannte, von der Evolutionstheorie etwa oder internationale Literatur. Er traf auf eine neue Lern- und Diskussionskultur. In der Schule und der Moschee hatte es eine vertikale [einseitige] Beziehung zwischen dem Lehrer beziehungsweise dem Imam und dem Schüler oder Betenden gegeben. Der eine sprach, der andere schwieg. Im Internet war das Lernen interaktiv – und: Die Diskussionspartner waren gleichberechtigt.
Blancho wechselte nicht nur seine Religion, sondern gründete auch den Islamischen Zentralrat in der Schweiz, der junge Schweizer zum Salafismus verführen sollte. Früher sprach er sich sogar für die Einführung der Scharia in der Schweiz aus; sie sieht etwa die Steinigung von Ehebrecherinnen und die Hinrichtung von Apostaten [Menschn, die aus dem Islam austreten] vor. Heute ist er mit seiner Wortwahl vorsichtiger geworden. Er bezeichnet die Steinigung zwar als „einen Bestandteil, einen Wert seiner Religion“, der aber im Schweizer Kontext nicht zur Anwendung kommen solle. Der umstrittene Islamwissenschaftler Tariq Ramadan sieht Blancho und den Islamischen Zentralrat Schweiz als „Sektierer ohne Basis“ und als „eine Randerscheinung in der muslimischen Landschaft“, die nicht die Muslime in der Schweiz repräsentiere.
Markus Seiler, Direktor vom Nachrichtendienst des Bundes, befand im Mai 2010: „Es geht beim Islamischen Zentralrat der Schweiz um ideologischen, nicht um gewalttätigen Extremismus.“ Man übersieht dabei, dass die wahabitische Ideologie, die Blancho verbreitet, zwar nicht zur Gewalt aufruft, ihr aber den Weg ebnet. Wer andere Menschen als Sünder und gar Ungläubige bezeichnet, entmenschlicht sie. Wer davon ausgeht, dass Sünder in der Hölle schmoren werden, hält sie nicht für Menschen, die die gleichen Rechte haben wie er, sondern entzieht ihnen die Existenzberechtigung.
Kacem wurde in Marokko im Namen der Scharia geschlagen und mit dem Tode bedroht, bis er das Land verließ. Dennoch versucht er niemanden zum Atheismus zu bekehren. Er wurde Menschenrechtsaktivist und kämpft für Glaubens- und Meinungsfreiheit. Die Grenzen der Meinungsfreiheit sieht er nur verletzt, wenn jemand zur Gewalt aufruft. Deshalb wehrt er sich gegen diejenigen, die versuchen, die Schweiz noch radikaler zu prägen als das Land, aus dem er fliehen musste. „Ich bin nicht vor der Scharia in Marokko geflohen, um sie in der Schweiz wiederzuhaben“, sagt er.
Kacem und Nicolas kannten sich bis zu diesem Treffen in Zürich nicht persönlich, hatten aber einige Monate zuvor einen indirekten Streit. Als der Zentralrat der Muslime den radikalen saudischen Prediger Mohamed al-Arifi zu einem Vortrag in Fribourg Mitte Dezember 2012 einlud, organisierte Kacem eine erfolgreiche Kampagne, die al-Arifis Einreise verhinderte. Grund dafür waren vergangene Fernsehauftritte des Predigers: Er hatte sich in TV-Sendungen etwa für das Recht des Mannes ausgesprochen, seine Frau zu schlagen, oder behauptet, dass europäische Frauen Sex mit Hunden hätten und dass 54 Prozent der dänischen Frauen nicht wüssten, wer der Vater ihrer Kinder sei.
Kacem kann nicht begreifen, wieso ein Mensch wie Blancho, der in der Freiheit aufgewachsen ist, diese Freiheit nicht schätzt, und warum Menschen, die Kant und Voltaire lesen, primitive Prediger wie al-Arifi brauchen. Zwischen den beiden Konvertiten entwickelte sich vor meinen Augen eine Debatte über die Scharia in der Schweiz. Blancho sah keinen Widerspruch zwischen dem islamischen Recht und dem Schweizer Gesetz.
Kacem konterte und fragte nach der Polygamie, die im Islam erlaubt, in der Schweiz aber verboten ist. Blancho antwortete: „Das Gesetz macht es möglich, dass zwei Männer in der Schweiz heiraten dürfen. Wenn man das akzeptiert, muss man auch akzeptieren, dass muslimische Männer mehr Frauen heiraten dürfen. Das nennt man Gleichberechtigung.“ Es ist interessant, wie oft Begriffe wie Freiheit oder Gleichberechtigung von Salafisten missbraucht werden. Niemals geht es um die Gleichberechtigung oder Freiheit anderer, wenn sie davon reden, sondern von den Vorteilen, die sie selbst daraus ziehen. [1]
[1] Mehrere Frauen heiraten, schön und gut. Vielleicht sollte man es wirklich erlauben. Dann sollen die Ehemänner aber auch für ihre Ehefrauen finanziell aufkommen und die Kosten nicht dem Staat auflasten. Die meisten orthodoxen Muslime sind wahrscheinlich nicht einmal in der Lage selber ihren Lebensunterhalt zu finanzieren. Solche Sozialschmarotzer sollte man ohnehin ausweisen. Dann hat sich das mit der Vielehe bereits erledigt. Und wenn schon Vielehe, dann sollte man auch den Frauen das Recht zugestehen, mehrere Männer zu heiraten, sagt unser Hausmeister. [siehe: Etliche Muslime sind dank Hartz IV mit mehreren Frauen verheiratet]Verkehrte Welt: Der Marokkaner trägt Jeans, zitiert Kant und kämpft für die Freiheit, während der Schweizer einen radikalen Prediger aus der Wüste als Vorbild hat und von einer Gemeinde wie im Mittelalter träumt. Vor zwei Monaten war Kacem als Referent beim UN-Menschenrechtsrat in Genf eingeladen und plädierte dort für Glaubensfreiheit in Marokko. Vor zwei Wochen war Blancho bei einer Salafistenveranstaltung in Kairo eingeladen, die junge Muslime weltweit dazu aufrief, in den Dschihad in Syrien zu ziehen.
“Ich musste die Angst loswerden“
Nach dem Sturz der Diktaturen in Ägypten und Tunesien wurde das Königshaus in Marokko unruhig und entschied sich, eine sanfte, kontrollierte Revolution zuzulassen. Studenten und Islamisten gingen auf die Straße und forderten Reformen. Die Wut der Bürger richtete sich nicht gegen den beliebten König Mohammed VI., sondern gegen die linke Regierung. Eine neue, dem Anschein nach freiheitliche Verfassung wurde in Windeseile verabschiedet, um die liberalen Kräfte zufriedenzustellen. Wahlen fanden statt, und die Islamisten durften zum ersten Mal in der Geschichte des Landes die Regierung bilden.
Der junge Blogger Imadeddine Adib [Bild links] wollte die neue Verfassung testen. Im Artikel 3 wird die Glaubens- und Gewissensfreiheit garantiert. Er kündigte also die Gründung des Zentralrates der Ex-Muslime in Marokko an. Eine Woche später stellte der höchste Gelehrtenrat, der ein Verfassungsorgan ist und vom König selbst geleitet wird, eine Fatwa aus, die die Hinrichtung als Strafe für Apostaten vorsieht.
Imad weiß, dass die marokkanische Justiz nicht tatsächlich imstande ist, ein Todesurteil gegen einen Apostaten zu fällen, da der König sein Image im Westen als reformorientierter Monarch nicht beschädigen will. Es handele sich nur um einen billigen Flirt mit den Islamisten, meint er. Aber die Gefährlichkeit dieser Fatwa liegt darin, dass naive religiöse Eiferer sich dadurch ermächtigt fühlen, eigenhändig Apostaten zu töten, wo auch immer sie sie finden. „Wie soll die Justiz mit dem Täter dann umgehen? Er hat nur den Gotteswillen, wie er in der Fatwa [islamisches Rechtsgutachten] steht, vollstreckt!“
Dennoch ließ sich Imad von der Fatwa nicht beeindrucken. Mit einer weiteren Provokation wollte er die Verfassung endgültig als Farce entlarven. Imad gründete mit dem im Züricher Exil lebenden Ex-Muslim Kacem El Ghazzali [siehe oben] die Bewegung „masayminsh“, zu Deutsch: „Wir fasten nicht“. „Zur Glaubensfreiheit gehört doch das Recht, sich an die religiösen Gebote nicht halten zu müssen“, sagt er.
Seine Bewegung rief nicht nur zum Boykott des Fastenmonats Ramadan auf, sondern organisierte auch öffentliche Workshops für Konfessionslose. Als die Bewegung breite Zustimmung unter jungen Marokkaner fand, wurde Imad von der Polizei per Haftbefehl gesucht. Seine Familie wandte sich von ihm ab. Auch seine säkularen Freunde warfen ihm vor, zu weit gegangen zu sein. Wenige Monate vor dem Abschluss seines Studiums am Institut für Physiotherapie musste Imad untertauchen, ohne Geld und ohne Perspektive. Sollte er verhaftet werden, könnte er zu fünfzehn Jahre Haft verurteilt werden.
Ich treffe Imad in Casablanca, und kann kaum glauben, dass ich vor einem 22-Jährigen stehe. Er wirkt alt, verbittert und gestresst. Enttäuscht ist er in erster Linie von seinen Freunden, die sich Freiheitskämpfer und Menschenrechtler nennen, aber zugleich von ihm distanzieren und ihm sogar vorwerfen, ihrer Sache durch seine „unnötigen Provokationen“ geschadet zu haben. Imad weiß, dass die Zeit noch nicht reif ist für solche Gedanken, aber für ihn ist die Freiheit nicht teilbar. „Wenn alle denken, es sei nicht die richtige Zeit, wird die richtige Zeit nie kommen. Irgendjemand muss es ja irgendwann sagen. Ich lebe jetzt und will die Freiheit jetzt“, sagt er.
Imad wurde bereits mit 14 Atheist. Sein Koranlehrer hatte ihm gruselige Geschichten von den Qualen der Hölle erzählt, lange hatte er Albträume. „Ich war bereit, alles zu tun, um diese Angst loszuwerden. Am Ende blieb mir nichts anderes übrig, als den Koran abzulehnen. Ich habe mir in einer Nacht gesagt: Es gibt keinen Gott, und den Koran hat nur ein Mensch aus der Wüste geschrieben. Das war meine Befreiung. Danach hatte ich keine Albträume und keine Schuldgefühle mehr.“
Die Lösung, für ihn war sie so einfach. Deshalb kann er nicht verstehen, warum Millionen von Gläubigen sich das Leben so schwer machen, warum Menschen andere für eine für ihn fiktive Figur namens Gott töten. „Religion bedeutet Überwachung. Und Überwachung führt zu Paranoia und Schizophrenie. Schauen Sie sich unsere Gesellschaft an. Die meisten sind doch krank.“
Es gibt unzählige Atheisten in Marokko, aber alle leben immer noch vor allem in der virtuellen Welt [im Internet]. Wer sich in der realen Welt zeigt, wird sofort verfolgt. Eine Religion, die von sich behauptet, die letzte und perfekteste Religion zu sein, hält keine Kritik aus. „Wenn es tatsächlich einen Gott gäbe, was schadete es ihm dann, dass ich an ihn nicht glaube?“, fragt Imad.
Es gehe nicht um Gott und die Religion, sondern um die Macht des Königs, der „das Oberhaupt der Gläubigen“ genannt wird und somit eine zusätzliche Legitimation in Zeiten des Umbruchs bekommt. Wer die Unantastbarkeit der Religion infrage stellt, stellt auch die absolute Macht des Königs infrage. „Vermutlich denkt der König über die Religion genau wie ich, aber er kann es nicht sagen. Aber warum soll er die Menschen aufklären, wenn er selbst von ihrer Dummheit profitiert?“, sagt Imad.
Vor einigen Wochen hatte Imad kein Geld mehr und besuchte einen Freund, der in einer internationalen Menschenrechtsorganisation arbeitet, um ihn nach einem Ausweg zu fragen. Der Freund teilte ihm mit, dass man für ihn nichts tun könne, weil er sich selbst von innen eingesperrt habe. Er empfahl Imad, zu einem Psychiater zu gehen, der ihm attestieren solle, dass er mentale Störung habe. Oder er solle auf seiner Facebook-Seite Reue zeigen und das Glaubensbekenntnis des Islam, „Es gib keinen Gott außer Allah“, posten. Nur so sei er noch zu retten. Imad ging müde und enttäuscht zurück in sein Versteck, öffnete seinen Laptop und postete auf Facebook: „Es gibt keinen Gott außer Mickymaus!“
Die Anmerkungen in eckigen Klammern sind vom Admin.
Quelle: Islam: „Was ist das für ein Glaube? Was für ein Gott?“
Siehe auch:
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