Menschenrechtsorganisationen versuchen sich derzeit in einer Bilanz des Leides, das die Ägypter unter dem ehemaligen Präsidenten Mohammed Mursi erfuhren. Das ist schwieriger als erwartet.
Von Till-R. Stoldt
Islamistische Ägypter fordern bei einer Demonstration im November 2012, dass der damalige Entwurf für die Verfassung des Landes die Richtlinien der Scharia zugrunde legen soll.
Ob Gefahr für Israel, geostrategische Rolle oder gescheitertes Vorbild für arabische Demokratiebewegungen, kein zweites Land wurde zuletzt so gründlich unter allen nur denkbaren Perspektiven betrachtet wie Ägypten. Über eine Woche nach dem Militärputschgegen den islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi wirkt das Land am Mittelmeer regelrecht ausgedeutet. Doch dieser Schein trügt. So warnt nun jedenfalls die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM).
Denn: Fast unberücksichtigt blieb bei all den Bilanzen der Islamisten-Herrschaft laut IGFM das Leid, das viele Ägypter in diesen zwölf Monaten erlitten. Ohne eine Bilanz der Menschenrechtsverletzungen und des damit verbundenen Leides lasse sich aber kaum verstehen, was seit dem Wahlsieg der Muslimbruderschaft (MB) geschah, und warum Millionen Menschen gegen Mursi auf die Straßen gingen.
Davon ist zumindest IGFM-Vorstandssprecher Martin Lessenthin überzeugt. Schließlich habe der Kampf gegen die Menschenrechte zentral zum ägyptischen Islamismus gehört. Und darunter hätten nicht nur Minderheiten wie Christen und Schiiten gelitten, sondern auch viele sunnitische Muslime.
Schaurige Gewaltexzesse
Weil Formulierungen wie "verschlechterte Menschenrechtslage" aber recht dürr wirken können, präsentierten die IGFM-Experten auch gleich anschauliche Beispiele: etwa das Wirken der selbst ernannten Sittenpolizei Ägyptens. Die firmierte als "Vereinigung zur Erhaltung der Tugend und Bekämpfung des Lasters", ihre Gruppen waren laut Menschenrechtlern von Schlägertrupps aber oft kaum zu unterscheiden. In mehreren Städten griffen die Tugendwächter demnach Frauen an, weil sie unverschleiert spazieren gingen.
Zu einem schaurigen Gewaltexzess kam es in Suez: Als die Bekämpfer des Lasters ein Pärchen ertappten, das auf offener Straße Händchen zu halten wagte, wurden dem Mann laut IGFM die Genitalien abgeschnitten, woraufhin er verblutete. In diesem Fall wurden die Täter immerhin vor Gericht gestellt.
Eine geradezu rationalisierte Form der Grausamkeit stellte in Mursis Ägypten die forcierte Genitalverstümmelung dar. Die ist seit Langem in der ägyptischen Bevölkerung verwurzelt, auch bei Christen, und wurde schon unter Mursis Vorgänger Hosni Mubarak praktiziert, obgleich sie verboten war.
Beschneidung im Bus
Nach Mursis Regierungsantritt zogen laut IGFM und Amnesty International jedoch ultrafromme Mediziner- und Krankenschwesterteams in Kleinbussen quer durchs Land, um dort den Bauern ihre Dienste als mobile Beschneidungszentren anzubieten, und um den Mädchen wenigstens auf hygienische Art Klitoris und innere Schamlippen abzuschneiden. Ägyptischen Medien zufolge hatte auch Mursi selbst betont, "in gewisser Weise" liege die letzte Entscheidung darüber, ob eine Tochter beschnitten werde, bei den Familien.
Verletzt wurden aber auch die Menschenrechte der koptischen Christen im Land. Dutzende Kirchen wurden angezündet, mal wurden Christen vor Betreten einer Kirche niedergeschlagen, mal wurden Christenviertel von bewaffneten Eiferern heimgesucht.
Übel erging es ferner der kleinen schiitischen Minderheit. Bei einem Pogrom [Völkermord] Ende Juni im Süden Kairos griffen Tausende Eiferer die Häuser der Schiiten an und töteten mehrere Anhänger dieser islamischen Glaubensrichtung.
Terror erlebten aber auch prominente Apostaten [Islamaussteiger], also Ex-Muslime wie der deutsch-ägyptische Islamkritiker Hamed Abdel-Samad. Wegen seiner grundsätzlichen Kritik am Islam verkündete ein salafistischer Geistlicher in einem Fernsehsender, Abdel-Samad verdiene den Tod. [Hamed Abdel-Samad: Es gibt keinen Gott außer Mickymaus]
Drastisch wurden zudem Konvertiten bestraft, die vom Islam zum Christentum übertraten. Im Gouvernement Beni Suef verurteilte Anfang 2013 ein Gericht eine achtköpfige Familie zu 15 Jahren Haft, weil sie sich für den christlichen Glauben entschieden hatte.
Ehrung von Terroristen
Nun muss man fairer Weise präzisieren: In vielen der genannten Fälle waren die Täter keine Muslimbrüder, sondern standen offenbar deren Koalitionspartnern nahe: den radikalislamistischen Salafisten. Aber die Muslimbruderschaft [MB] ließ diese Gewalttäter zumindest gewähren. Und in einigen Fällen mischten manche Muslimbrüder gemäß IGFM auch direkt mit. So hätten sie gelegentlich in den mobilen Beschneidungsbussen gesessen und seien mehrfach auch bei den Tugendwächtern [Religionspolizei] mitmarschiert.
Mehr noch, laut dem IGFM-Sprecher adelte die Muslimbruderschaft die Salafisten und deren Handeln regelrecht. So ernannte Mursi einen ehemaligen Djihadisten, der unter Mubarak an mehreren Bombenanschlägen mitgewirkt hatte, zum Gouverneur von Luxor. Ferner nahm Mursi an einer Konferenz teil, auf der salafistische Prediger Schiiten zu islamfeindlichen Ungläubigen erklärten. Mit keinem Wort distanzierte sich Mursi von dieser Verteufelung einer Minderheit. Kurz danach kam es zu den antischiitischen Pogromen.
Ähnlich verhielt es sich im Fall der Todesfatwa gegen Abdel-Samad. Nach deren Veröffentlichung traf Mursi ihren Verkünder und grüßte ihn herzlich in aller Öffentlichkeit. Folglich könne man der MB die Taten der Salafisten voll anrechnen, schließen daraus die IGFM-Experten.
Zur Gewalt gezwungen
Mit diesem Vorwurf wird der Muslimbruderschaft allerdings ein hohes Maß an Entscheidungsfreiheit unterstellt. Und genau die besaß sie nicht, so meinen kritisch-sympathisierende Beobachter der Muslimbruderschaft wie der ägyptischstämmige Islamgelehrte Tariq Ramadan [1]. Ihnen zufolge duldeten viele Muslimbrüder die Gewalttaten nur widerwillig, weil sie händeringend Verbündete brauchten im Überlebenskampf mit den Kräften des Ancien Régime in Armee, Gerichtsbarkeit und Administration.
Dass Mursi und seine Brüder längst nicht so grausam seien, wie westliche Aktivisten behaupteten, wurde zuletzt auch in den [Lügen-]Medien des Al-Jazeera-Netzwerkes diskutiert. Dort argumentierten MB-nahe Kommentatoren, Mursi habe immerhin als Schirmherr einer Konferenz zur Besserstellung der Frau fungiert, die sich gegen die Beschneidung aussprach. Jahre zuvor hatte auch der einflussreiche Vordenker der Muslimbrüder, der Gelehrte Yusuf al-Qaradawi, die Beschneidung als unislamisch verworfen.
Auch wurde von der Muslimbruderschaft erklärt, Mursi habe Schiiten nicht zu Ungläubigen erklärt, schließlich sei er selbst in den schiitischen Iran gereist und habe Iraner aufgefordert, in Ägypten zu urlauben.
Auch die Verantwortung für die Gewaltexzesse angeblicher Tugendwächter wiesen Offizielle der Muslimbruderschaft kategorisch zurück. Sie schworen, dahinter müssten Geheimdienstleute des alten Mubarak-Regimes stehen, die die Regierung diskreditieren wollten.
Geheimdienste verüben Anschläge
Was für Europäer wunderlich klingt, wird grundsätzlich auch von westlichen Menschenrechtlern nicht ausgeschlossen. Jedenfalls ist laut IGFM und der koptischen Kirche Ägyptens erwiesen, dass der Mubarak-Geheimdienst blutige Anschläge auf Kirchen verübte, um sie den Islamisten anzulasten und so deren Gefährlichkeit aufzubauschen (ähnlich wie Jahre zuvor der algerische Geheimdienst Gewalttaten beging und den dortigen Islamisten in die Schuhe schob, was anfangs niemand in Europa für möglich hielt).
Auch Mursi selbst betonte mehrfach, der Kampf gegen die "Saboteure" des alten Regimes lasse ihm keine Zeit, all die tief verwurzelten Missstände in Ägypten zu beheben. Das bestreiten bis zu einem gewissen Punkt auch nicht die IGFM, Amnesty oder die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV).
Tatsächlich reihen sich die Menschenrechtsverletzungen unter Mursi meist in eine Tradition ein. So ist die Genitalverstümmelung bei den Ägyptern fest verankert. Laut UNICEF sind 90 Prozent der Frauen beschnitten. Auch die Christendiskriminierung war schon unter Mubarak gängig. Mehrfach pro Jahr kam es zu Anschlägen auf Kirchen, während die Armee laut Amnesty und IGFM oft zuschaute. Der Übertritt eines Muslims zum Christentum oder nichtislamische Missionsversuche wurden von Gerichten auch zu Mubaraks Zeit mit Gefängnis bestraft.
Hätte Mursi hier eine Wende eingeleitet, es wäre eine fast revolutionäre Neuerung gewesen. Konnte man die von einem Muslimbruder erwarten?
Keine Verbesserung, dafür Verschlechterung
Die Menschenrechtler parieren dies mit einer Gegenfrage: Musste sich die Menschenrechtslage wegen dieses Machtkampfes denn gleich verschlechtern? Laut IGFM, GfbV [Gesellschaft für bedrohte Völker] oder Amnesty erging es den Menschenrechten unter Mursi nicht nur nicht besser als zuvor, sondern schlechter.
Die Zahl antichristlicher Übergriffe habe, bei allen Problemen einer verlässlichen Zählung, zugenommen; die Genitalverstümmelung wurde forciert, eine Sittenpolizei mit hochintolerantem Potenzial entstand, und der Staatspräsident ehrte Personen mit seiner Aufmerksamkeit, die zu Terror und Mord im Namen Gottes aufriefen.
Doch bei allem Streit, eines realisieren derzeit alle Beobachter: Ein Ende der Gewalt hat die Entmachtung der Islamisten nicht bewirkt. In den Tagen seither starben über 100 Ägypter: Christen, Schiiten, Mursi-Gegner, aber auch etliche Muslimbrüder.
Quelle: Ägypten: Unter Mursi jagten islamistische Eiferer Christen
Theodred schreibt:
Es spielt keine Rolle, ob "große Teile" der Muslimbrüder die Gewalt "nur widerwillig" tolerierten, sie haben sie toleriert. Und der andere Teil hat sie sogar begrüßt und unterstützt, bis zu dem Teil der aktiv daran teilnahm.
Würde in einem atheistischen, buddhistischen oder christlichen Land der Präsident und die Regierungspartei die Ermordung, Entführung, Zwangsverheiratung und Diskriminierung von Minderheiten in einem Umfang von vielen hunderten oder tausenden Fällen nicht nur ignorieren sondern deren Täter noch offiziell als Freunde behandeln, ja sogar als hochrangige Beamte einsetzen, da gäbe es kein "glücklich sind sie damit nicht" sondern nur klare Kritik. Ich erinnere bspw. an Putin, mit Sicherheit kein Menschenfreund und ausgesprochen repressiv. Aber allein den Aufruhr den unsere Medien wegen Pussy Riot machten, da gab es für die Russen auch kein "ja aber". Und dabei ist niemand umgebracht worden.
Dagegen sitzt eine ganze Familie, acht Menschen, in Haft, weil sie zu ihrer Religion zurückkehrten [2]. Nebenbei, die Beamten die diesen Fall betreuten wurden ebenfalls inhaftiert, angeklagt und eingesperrt. Dagegen begraben die Kopten jeden Monat ihre Märtyrer. Dagegen vermissen hunderte Kopten ihre Töchter und Schwestern [weil sie von Muslimen entführt und zwangsverheiratet werden]. Dagegen brennen dort regelmäßig Kirchen. Dagegen darf man sich dort nicht auf offener Strassen über Mursis Absetzung freuen, sonst jagt ein Mob einen durch die Strassen und prügelt ihn dann ins Jenseits. Mir wird schlecht, wenn ein Journalist dafür Entschuldigungen sucht.
Ich frage mich nur warum diese Vorkommnisse zu Mursi`s Amtszeit in unseren Medien nie erwähnt wurden.
PeterE schreibt:
Wenn man überlegt, dieser Verbrecher wurde vor einigen Monaten noch in Berlin hofiert.
freundeskreis schreibt:
ich frage mich, warum die UN nicht längst gegen christenverfolger stellung bezieht... schliesslich besteht das problem nicht erst seit mursi.. wozu gibt es sonst eigentlich die UN ?
Siehe auch:
Kelek & Maron: Der politische Islam bleibt eine Gefahr für uns alle
Akif Pirincci: Muslime & Zigeuner jetzt im Rundfunkrat
Hamed Abdel-Samad: „Es gibt keinen Gott außer Mickymaus!“
Michael Mannheimer: Peillon (Sozialist): „Katholizismus ausschalten“
Ägypten: Historische Niederlage für den radikalen Islam
Bremen: Das fand die Polizei in der Drogen-Zentrale der Mongols
Necla Kelek: Sozialdemokratischer Kniefall
Linksextremisten: Gewaltbereite Bürgerkinder
Von Till-R. Stoldt
Islamistische Ägypter fordern bei einer Demonstration im November 2012, dass der damalige Entwurf für die Verfassung des Landes die Richtlinien der Scharia zugrunde legen soll.
Ob Gefahr für Israel, geostrategische Rolle oder gescheitertes Vorbild für arabische Demokratiebewegungen, kein zweites Land wurde zuletzt so gründlich unter allen nur denkbaren Perspektiven betrachtet wie Ägypten. Über eine Woche nach dem Militärputschgegen den islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi wirkt das Land am Mittelmeer regelrecht ausgedeutet. Doch dieser Schein trügt. So warnt nun jedenfalls die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM).
Denn: Fast unberücksichtigt blieb bei all den Bilanzen der Islamisten-Herrschaft laut IGFM das Leid, das viele Ägypter in diesen zwölf Monaten erlitten. Ohne eine Bilanz der Menschenrechtsverletzungen und des damit verbundenen Leides lasse sich aber kaum verstehen, was seit dem Wahlsieg der Muslimbruderschaft (MB) geschah, und warum Millionen Menschen gegen Mursi auf die Straßen gingen.
Davon ist zumindest IGFM-Vorstandssprecher Martin Lessenthin überzeugt. Schließlich habe der Kampf gegen die Menschenrechte zentral zum ägyptischen Islamismus gehört. Und darunter hätten nicht nur Minderheiten wie Christen und Schiiten gelitten, sondern auch viele sunnitische Muslime.
Schaurige Gewaltexzesse
Weil Formulierungen wie "verschlechterte Menschenrechtslage" aber recht dürr wirken können, präsentierten die IGFM-Experten auch gleich anschauliche Beispiele: etwa das Wirken der selbst ernannten Sittenpolizei Ägyptens. Die firmierte als "Vereinigung zur Erhaltung der Tugend und Bekämpfung des Lasters", ihre Gruppen waren laut Menschenrechtlern von Schlägertrupps aber oft kaum zu unterscheiden. In mehreren Städten griffen die Tugendwächter demnach Frauen an, weil sie unverschleiert spazieren gingen.
Zu einem schaurigen Gewaltexzess kam es in Suez: Als die Bekämpfer des Lasters ein Pärchen ertappten, das auf offener Straße Händchen zu halten wagte, wurden dem Mann laut IGFM die Genitalien abgeschnitten, woraufhin er verblutete. In diesem Fall wurden die Täter immerhin vor Gericht gestellt.
Eine geradezu rationalisierte Form der Grausamkeit stellte in Mursis Ägypten die forcierte Genitalverstümmelung dar. Die ist seit Langem in der ägyptischen Bevölkerung verwurzelt, auch bei Christen, und wurde schon unter Mursis Vorgänger Hosni Mubarak praktiziert, obgleich sie verboten war.
Beschneidung im Bus
Nach Mursis Regierungsantritt zogen laut IGFM und Amnesty International jedoch ultrafromme Mediziner- und Krankenschwesterteams in Kleinbussen quer durchs Land, um dort den Bauern ihre Dienste als mobile Beschneidungszentren anzubieten, und um den Mädchen wenigstens auf hygienische Art Klitoris und innere Schamlippen abzuschneiden. Ägyptischen Medien zufolge hatte auch Mursi selbst betont, "in gewisser Weise" liege die letzte Entscheidung darüber, ob eine Tochter beschnitten werde, bei den Familien.
Verletzt wurden aber auch die Menschenrechte der koptischen Christen im Land. Dutzende Kirchen wurden angezündet, mal wurden Christen vor Betreten einer Kirche niedergeschlagen, mal wurden Christenviertel von bewaffneten Eiferern heimgesucht.
Übel erging es ferner der kleinen schiitischen Minderheit. Bei einem Pogrom [Völkermord] Ende Juni im Süden Kairos griffen Tausende Eiferer die Häuser der Schiiten an und töteten mehrere Anhänger dieser islamischen Glaubensrichtung.
Terror erlebten aber auch prominente Apostaten [Islamaussteiger], also Ex-Muslime wie der deutsch-ägyptische Islamkritiker Hamed Abdel-Samad. Wegen seiner grundsätzlichen Kritik am Islam verkündete ein salafistischer Geistlicher in einem Fernsehsender, Abdel-Samad verdiene den Tod. [Hamed Abdel-Samad: Es gibt keinen Gott außer Mickymaus]
Drastisch wurden zudem Konvertiten bestraft, die vom Islam zum Christentum übertraten. Im Gouvernement Beni Suef verurteilte Anfang 2013 ein Gericht eine achtköpfige Familie zu 15 Jahren Haft, weil sie sich für den christlichen Glauben entschieden hatte.
Ehrung von Terroristen
Nun muss man fairer Weise präzisieren: In vielen der genannten Fälle waren die Täter keine Muslimbrüder, sondern standen offenbar deren Koalitionspartnern nahe: den radikalislamistischen Salafisten. Aber die Muslimbruderschaft [MB] ließ diese Gewalttäter zumindest gewähren. Und in einigen Fällen mischten manche Muslimbrüder gemäß IGFM auch direkt mit. So hätten sie gelegentlich in den mobilen Beschneidungsbussen gesessen und seien mehrfach auch bei den Tugendwächtern [Religionspolizei] mitmarschiert.
Mehr noch, laut dem IGFM-Sprecher adelte die Muslimbruderschaft die Salafisten und deren Handeln regelrecht. So ernannte Mursi einen ehemaligen Djihadisten, der unter Mubarak an mehreren Bombenanschlägen mitgewirkt hatte, zum Gouverneur von Luxor. Ferner nahm Mursi an einer Konferenz teil, auf der salafistische Prediger Schiiten zu islamfeindlichen Ungläubigen erklärten. Mit keinem Wort distanzierte sich Mursi von dieser Verteufelung einer Minderheit. Kurz danach kam es zu den antischiitischen Pogromen.
Ähnlich verhielt es sich im Fall der Todesfatwa gegen Abdel-Samad. Nach deren Veröffentlichung traf Mursi ihren Verkünder und grüßte ihn herzlich in aller Öffentlichkeit. Folglich könne man der MB die Taten der Salafisten voll anrechnen, schließen daraus die IGFM-Experten.
Zur Gewalt gezwungen
Mit diesem Vorwurf wird der Muslimbruderschaft allerdings ein hohes Maß an Entscheidungsfreiheit unterstellt. Und genau die besaß sie nicht, so meinen kritisch-sympathisierende Beobachter der Muslimbruderschaft wie der ägyptischstämmige Islamgelehrte Tariq Ramadan [1]. Ihnen zufolge duldeten viele Muslimbrüder die Gewalttaten nur widerwillig, weil sie händeringend Verbündete brauchten im Überlebenskampf mit den Kräften des Ancien Régime in Armee, Gerichtsbarkeit und Administration.
[1] Wer Tariq Ramadan kennt, weiß, dass er gerne Taqiyya spricht. [Taqiyya = List, Lüge] Wahrscheinlich waren die Christen schuld. Warum werden sie auch keine Muslime. Mit dem Islam hat das jedenfalls alles nichts zu tun, denn Islam ist Frieden. Verdammte Lügner, sagt unser Hausmeister. [Tariq Ramadan: die lächelnde Bombe]Die Partei Mursis setzte demnach also nicht gezielt auf Menschenrechtsverletzungen, abgesehen von der strafrechtlichen Ahndung der Apostasie. Sie hätte mit dem Rücken zur Wand meist nur hingenommen, was sie mangels ausreichender Stärke nicht verhindern konnte.
Dass Mursi und seine Brüder längst nicht so grausam seien, wie westliche Aktivisten behaupteten, wurde zuletzt auch in den [Lügen-]Medien des Al-Jazeera-Netzwerkes diskutiert. Dort argumentierten MB-nahe Kommentatoren, Mursi habe immerhin als Schirmherr einer Konferenz zur Besserstellung der Frau fungiert, die sich gegen die Beschneidung aussprach. Jahre zuvor hatte auch der einflussreiche Vordenker der Muslimbrüder, der Gelehrte Yusuf al-Qaradawi, die Beschneidung als unislamisch verworfen.
Auch wurde von der Muslimbruderschaft erklärt, Mursi habe Schiiten nicht zu Ungläubigen erklärt, schließlich sei er selbst in den schiitischen Iran gereist und habe Iraner aufgefordert, in Ägypten zu urlauben.
Auch die Verantwortung für die Gewaltexzesse angeblicher Tugendwächter wiesen Offizielle der Muslimbruderschaft kategorisch zurück. Sie schworen, dahinter müssten Geheimdienstleute des alten Mubarak-Regimes stehen, die die Regierung diskreditieren wollten.
Geheimdienste verüben Anschläge
Was für Europäer wunderlich klingt, wird grundsätzlich auch von westlichen Menschenrechtlern nicht ausgeschlossen. Jedenfalls ist laut IGFM und der koptischen Kirche Ägyptens erwiesen, dass der Mubarak-Geheimdienst blutige Anschläge auf Kirchen verübte, um sie den Islamisten anzulasten und so deren Gefährlichkeit aufzubauschen (ähnlich wie Jahre zuvor der algerische Geheimdienst Gewalttaten beging und den dortigen Islamisten in die Schuhe schob, was anfangs niemand in Europa für möglich hielt).
Auch Mursi selbst betonte mehrfach, der Kampf gegen die "Saboteure" des alten Regimes lasse ihm keine Zeit, all die tief verwurzelten Missstände in Ägypten zu beheben. Das bestreiten bis zu einem gewissen Punkt auch nicht die IGFM, Amnesty oder die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV).
Tatsächlich reihen sich die Menschenrechtsverletzungen unter Mursi meist in eine Tradition ein. So ist die Genitalverstümmelung bei den Ägyptern fest verankert. Laut UNICEF sind 90 Prozent der Frauen beschnitten. Auch die Christendiskriminierung war schon unter Mubarak gängig. Mehrfach pro Jahr kam es zu Anschlägen auf Kirchen, während die Armee laut Amnesty und IGFM oft zuschaute. Der Übertritt eines Muslims zum Christentum oder nichtislamische Missionsversuche wurden von Gerichten auch zu Mubaraks Zeit mit Gefängnis bestraft.
Hätte Mursi hier eine Wende eingeleitet, es wäre eine fast revolutionäre Neuerung gewesen. Konnte man die von einem Muslimbruder erwarten?
Keine Verbesserung, dafür Verschlechterung
Die Menschenrechtler parieren dies mit einer Gegenfrage: Musste sich die Menschenrechtslage wegen dieses Machtkampfes denn gleich verschlechtern? Laut IGFM, GfbV [Gesellschaft für bedrohte Völker] oder Amnesty erging es den Menschenrechten unter Mursi nicht nur nicht besser als zuvor, sondern schlechter.
Die Zahl antichristlicher Übergriffe habe, bei allen Problemen einer verlässlichen Zählung, zugenommen; die Genitalverstümmelung wurde forciert, eine Sittenpolizei mit hochintolerantem Potenzial entstand, und der Staatspräsident ehrte Personen mit seiner Aufmerksamkeit, die zu Terror und Mord im Namen Gottes aufriefen.
Doch bei allem Streit, eines realisieren derzeit alle Beobachter: Ein Ende der Gewalt hat die Entmachtung der Islamisten nicht bewirkt. In den Tagen seither starben über 100 Ägypter: Christen, Schiiten, Mursi-Gegner, aber auch etliche Muslimbrüder.
Quelle: Ägypten: Unter Mursi jagten islamistische Eiferer Christen
Theodred schreibt:
Es spielt keine Rolle, ob "große Teile" der Muslimbrüder die Gewalt "nur widerwillig" tolerierten, sie haben sie toleriert. Und der andere Teil hat sie sogar begrüßt und unterstützt, bis zu dem Teil der aktiv daran teilnahm.
Würde in einem atheistischen, buddhistischen oder christlichen Land der Präsident und die Regierungspartei die Ermordung, Entführung, Zwangsverheiratung und Diskriminierung von Minderheiten in einem Umfang von vielen hunderten oder tausenden Fällen nicht nur ignorieren sondern deren Täter noch offiziell als Freunde behandeln, ja sogar als hochrangige Beamte einsetzen, da gäbe es kein "glücklich sind sie damit nicht" sondern nur klare Kritik. Ich erinnere bspw. an Putin, mit Sicherheit kein Menschenfreund und ausgesprochen repressiv. Aber allein den Aufruhr den unsere Medien wegen Pussy Riot machten, da gab es für die Russen auch kein "ja aber". Und dabei ist niemand umgebracht worden.
Dagegen sitzt eine ganze Familie, acht Menschen, in Haft, weil sie zu ihrer Religion zurückkehrten [2]. Nebenbei, die Beamten die diesen Fall betreuten wurden ebenfalls inhaftiert, angeklagt und eingesperrt. Dagegen begraben die Kopten jeden Monat ihre Märtyrer. Dagegen vermissen hunderte Kopten ihre Töchter und Schwestern [weil sie von Muslimen entführt und zwangsverheiratet werden]. Dagegen brennen dort regelmäßig Kirchen. Dagegen darf man sich dort nicht auf offener Strassen über Mursis Absetzung freuen, sonst jagt ein Mob einen durch die Strassen und prügelt ihn dann ins Jenseits. Mir wird schlecht, wenn ein Journalist dafür Entschuldigungen sucht.
[2] Die Frau war ursprünglich Christin, heiratete einen Muslim und wurde Moslem. Nachdem der Mann gestorben war, kehrte sie zum Christentum zurück. [siehe: 15 Jahre Haft für Übertritt zum Christentum]Xirtalleb schreibt:
Ich frage mich nur warum diese Vorkommnisse zu Mursi`s Amtszeit in unseren Medien nie erwähnt wurden.
PeterE schreibt:
Wenn man überlegt, dieser Verbrecher wurde vor einigen Monaten noch in Berlin hofiert.
freundeskreis schreibt:
ich frage mich, warum die UN nicht längst gegen christenverfolger stellung bezieht... schliesslich besteht das problem nicht erst seit mursi.. wozu gibt es sonst eigentlich die UN ?
Siehe auch:
Kelek & Maron: Der politische Islam bleibt eine Gefahr für uns alle
Akif Pirincci: Muslime & Zigeuner jetzt im Rundfunkrat
Hamed Abdel-Samad: „Es gibt keinen Gott außer Mickymaus!“
Michael Mannheimer: Peillon (Sozialist): „Katholizismus ausschalten“
Ägypten: Historische Niederlage für den radikalen Islam
Bremen: Das fand die Polizei in der Drogen-Zentrale der Mongols
Necla Kelek: Sozialdemokratischer Kniefall
Linksextremisten: Gewaltbereite Bürgerkinder